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Wahnsinnige Schmetterlinge  

von Wolfgang Heuer

Irgendwann vor langer Zeit geschah es in der Evolution, daß in den Schmetterlingen Selbst-Bewußtsein und logischer Verstand sich entwickelte. Das Selbst-Bewußtsein war eine echt tolle Sache, denn die Schmetterlinge erkannten nun, wie sie waren. Den rationalen Verstand aber benutzten sie immer mehr dazu, ihre Ernährung und ihr Überleben zu sichern. Bald schon entnahmen die Raupen ihre Nahrung nicht mehr einfach dem natürlich wachsenden Angebot, sondern sie gingen dazu über, planmäßig landwirtschaftlich und industriell zu wirtschaften. Mit Wissenschaft, Technik und aufwendiger Organisation machten sie sich ihr Raupenleben viel leichter und bequemer.

Sie schützten sich erfolgreich gegen schlechtes Wetter und natürliche Feinde - von denen nach und nach immer mehr dem Aussterben zum Opfer fielen. Aber die Schmetterlingsraupen waren so stolz auf sich, auf ihre Überlegenheit; auf ihren rationalen Verstand und ihre Überlebenskunst, daß sie sich bald für die Krone der Schöpfung hielten. Sie glaubten, sie hätten sich die Erde untertan gemacht.

Bei allem technischen Fortschritt und materiellen Wohlstand gab es bei den Raupen jedoch auch einige Probleme. Die reichliche Ernährung und Bequemlichkeit verursachte Zivilisationskrankheiten und der Mangel an Herausforderungen führte zu geistiger Verarmung und körperlicher Anfälligkeit. Der bewußte logische Verstand aber – diese in der Schöpfung scheinbar einzigartige neue Gabe - war so faszinierend, daß die Raupen ihn geradezu vergötterten und fest daran glaubten, alles im Leben mit diesem Verstand regeln zu können. Was sie bei dieser einseitigen Entwicklung jedoch verloren hatten, das sahen sie nicht: Ihre sensible Gefühlswelt war verkümmert, ihre intuitive Wahrnehmung verloren gegangen – ebenso wie die Fähigkeit, größere Zusammenhänge und das große Ganze zu erkennen. Vor allem hatten sie weitgehend ihre Fähigkeit zur eigenen Weiterentwicklung, zur Transformation, verloren. Immer weniger von ihnen waren im Laufe der Zeit wirklich noch zu Schmetterlingen geworden.

Böse Zungen behaupteten, die Schmetterlinge hießen früher anders; den Namen „Schmetter“-linge hätte man ihnen erst gegeben, als ihre Art im Begriff war, die Natur regelrecht zu zer“schmettern". RAUPen aber würden sie genannt, weil sie alle Geschöpfe ihrer natürlichen Lebensgrundlagen und sich selbst auch ihrer Entwicklungsmöglichkeiten beRAUPten - denn die Verpuppung war inzwischen das normale Endstadium der Entwicklung der zivilisierten Schmetterlingsraupen geworden.

Die große Zahl der unproduktiven, kostenintensiven Puppen aber machte das Raupenleben zunehmend schwerer. Hinter vorgehaltener Hand sprach man schon von Puppenexplosion und weltweitem Überpuppungsproblem. Immer weniger Raupen wollten die notwendige Leistung in der Raupengesellschaft erbringen. Jede Raupe strebte danach, so schnell wie möglich die nötigen Mittel für die Verpuppung zu erwerben. Dann hatte man ausgesorgt und keine Probleme mehr, die in der Raupengesellschaft auch oft und gern verdrängt wurden.

Es gab allerdings eine Sage von einem „Leben jenseits der Verpuppung", der zu Folge man am Ende dieser Phase nicht starb, sondern sich angeblich völlig verwandelte und wieder zu neuem Leben erwachte. Es sollte wie eine zweite Geburt, ein weiteres Zur-Welt-kommen, sein. Und es hieß, diese sogenannten Wiedergeborenen seien wunderschöne Wesen – ganz anders als die plumpen Raupen. Statt auf festem Grund zu krabbeln und zu kriechen, würden sie mit filigran-bunten Flügeln von Blüte zu Blüte fliegen und süßen Nektar trinken.

Ach, Unsinn! Keine Schmetterlingsraupe mit rationalem Verstand wird solche Märchen glauben! Normale zivilisierte Raupen erkennen den Sinn des Lebens darin, in der straffen Ordnung des Systems gut zu funktionieren und seine Aufrechterhaltung für die Versorgung der Puppen zu sichern. Für ein „Leben jenseits der Verpuppung" gibt es weder wissenschaftliche Beweise noch logische Gründe.

Die Normalität der Raupengesellschaft schien wirklich perfekt und ungestört. Nur gelegentlich hörte man von Individuen, die - unerklärlicherweise - aus ihrer Verpuppung ausgebrochen waren. Man führte diese Fälle auf eine noch wenig erforschte Krankheit zurück, die Metamorphose genannt wurde.                

Anzeichen dafür waren deutlich wahrnehmbare, von der Norm abweichende, Entwicklung und befremdliches Denken und Verhalten. Es hieß, diese Kranken könnten fliegen; und sie hätten verrückterweise keine Angst davor und wären offenbar auch völlig grundlos glücklich, wenn sie so ohne die Sicherheit ihrer Verpuppung durch die Luft flogen.

Von solchen irren fliegenden Schmetterlingen hatte man gehört, sie hätten eine erweiterte Wahrnehmung. Aus der luftigen Höhe, wo die metamorphosekranken Schmetterlinge sich bewegten, sei wohl mehr über die Zusammenhänge in der zivilisierten Raupengesellschaft zu sehen, als aus der Raupen- oder Puppenperspektive.

Ganz unverständlich aber blieb, wie die betroffenen Flieger die Gefühle aushielten, die sich beim Fliegen zweifellos einstellen mußten. Offenbar waren diese Kranken so fern der normalen Realität, daß sie der Angst nicht erlagen und Gefühle natürlich und gut fanden. Unglaublich, nicht wahr?

Ein derart krankhaft verwandelter Schmetterling soll einmal seinen Raupenbrüdern und -schwestern zugerufen haben: "Laßt ab von eurem sündigen Tun; lebt natürlich und in liebevoller Gemeinschaft und ermöglicht so eure Weiterentwicklung; bereitet euch auf die Metamorphose vor. Überwindet eure Angst! Nach der Verwandlung werdet ihr alles verstehen und sehr, sehr glücklich sein!"

Man fing ihn ein und versuchte, seinen angeblichen Wahn mit Medikamenten zu beseitigen. Man konnte zwar seine Aktivität dämpfen, aber in mehreren Schüben brach sie immer wieder hervor. Die Ärzte meinten, es läge entweder an den Genen oder an einem unerklärlich veränderten Hirnstoffwechsel - aber ganz sicher war man sich darüber noch nicht.

Nachdem dieser angebliche Kranke nicht abließ von seinen Aufrufen, wurde er als Unruhestifter und Aufrührer beschuldigt und vor die Wahl gestellt, freiwillig in die Normalität der Verpuppung zurückzukehren oder stigmatisiert und aus der Gesellschaft ausgegrenzt zu werden.

Er aber sagte, daß es ihm unmöglich sei, seine natürliche Entwicklung rückgängig zu machen; er könne es nicht und wolle es auch nicht.

So lebte er denn abseits der Raupen-Normalität, neben der verpuppten Gesellschaft; frei und unabhängig und in bedingungsloser Liebe zum Leben und zur Schöpfung, zufrieden mit seinem Schicksal, in dem er von vielen anderen Raupen und Puppen ängstlich gemieden, von einigen bedauert, von einzelnen aber auch bewundert oder gar beneidet wurde.

Aber das ist, wie gesagt, eine Legende. Das normale Leben beginnt als Raupe und endet in der Verpuppung. Metamorphose ist nicht normal, sondern krank - eine schwere Störung. Die angeblich stark entwickelten geistig-seelischen Fähigkeiten von Schmetterlingen nach der Metamorphose - wie bedingungslose Liebe, Bereitschaft zu Verzicht und Verantwortung - sind reine Utopie.

Die Probleme, die die Raupengesellschaft hat, kann sie mit Hilfe von Wissenschaft und Technik lösen. Die moderne Raupengesellschaft braucht keine Metamorphose, sondern anpassungsfähige, dynamische RAUPtiere, die den weltweiten ökologischen RAUPbau vorantreiben.

Was wir in Zeiten knapper werdender Ressourcen am wenigsten brauchen können, sind wahnsinnige Schmetterlinge.